Medizinrecht - Arzthaftungsrecht - Behandlungsfehler: Grob fehlerhaft vorgenommene Fasziotomie, 50.000,- Euro, LG Regensburg, Az.: 43 O 1039/17
Chronologie:
Die Klägerin stellte sich erstmals am 02.07.2014 im Krankenhaus der Beklagten vor. Dort wurde eine chronisch-venöse Insuffizienz IV. Grades mit einem kleinen Ulcus cruris venosum diagnostiziert. Unter chronisch-venöser Insuffizienz versteht man Beschwerden, die aufgrund einer pathologischen venösen Hämodynamik entstehen. Dabei sind die Venenklappen (Ventile) der Beinvenen undicht, sodass das venöse Blut entgegen der normalen Richtung nicht herzwärts, sondern von oben nach unten strömt und dort einen chronisch erhöhten venösen Druck verursacht.
Neben der Insuffizienz der großen Rosenvene (großes V. saphena magna) von der Leiste bis zum Innenknöchel lag bei der Klägerin auch eine Verhärtung (Induration) der Haut und der darunter liegenden Bindegewebeschicht vor (Haut- und Gewebssklerose). Diese Haut- und Gewebsverhärtung entsprechend einer Dermatofasziosklerose wird nach HACH in verschiedene Stadien eingeteilt. Bei der Klägerin lag ein Stadium II mit Dermatoliposklerose und einem kleinen Ulcus cruris oder ein Stadium III mit einer Dermatolipofasziosklerose regionalis vor. Das Ausmaß der Hautinduration betrug 10 x 6 cm. Der Umfang der rechten Wade war mit 34,5 cm im Vergleich zur Gegenseite mit 33 cm vergrößert. Sonographisch wurde eine Stammvarikose der V. saphena magna im gesamten Verlauf diagnostiziert. Des Weiteren zeigten sich querverlaufenden Steinäste in Verbindung zur kleinen Rosenvene. Ein detaillierter duplexsonographischer Befund, wie dies üblich ist, mit Beschreibung der Qualität der tiefen Beinvenen (suffizient oder insuffizient, kompressibel oder nicht) und etwaiger vorhandener insuffizienter Perforansvarizen (kurze Verbindungsvenen, welche bei intakten Klappen venöses Blut von der Oberfläche in die tiefen Venen leiten) liegt nicht vor. Es wurden Kompressionsverbände am linken Unterschenkel verordnet. Des Weiteren wird im Arztbrief vom 02.07.2014 nach ambulanter Untersuchung die zeitnahe Indikation zur Entfernung der V. saphena magna gestellt.
Am 03.07.2014 gab es ein Gespräch zwischen der Klägerin und den behandelnden Ärzten über die Crossektomie und Stripping der V. saphena magna links. Unter Crossektomie versteht man die Durchtrennung und Ligatur der Seitenäste der V. saphena magna im Bereich der Leiste, kurz vor der Einmündung in die tiefe Vene (V. femoralis). Über eine alleinige paratibiale Fasziotomie ohne Veneneingriff ist nicht gesprochen worden. Einen entsprechenden Aufklärungsbogen gibt es diesbezüglich auch nicht. Unter Fasziotomie versteht man die Eröffnung der verhärteten Faszie (Muskelhaut) zur Druckentlastung der Muskelloge. Auf Seite 1 des Aufklärungsbogens ist die Crossektomie und das Stripping der V. saphena magna links erwähnt. Die Fasziotomie ist dabei handschriftlich nicht aufgeführt und auf Seite 2 auch nicht durch Unterstreichen hervorgehoben.
Im Operationsbericht vom 08.07.2014 wird als Diagnose aufgeführt:
„chronisch-venöse Insuffizienz IV. Grad links (Ulcus cruris)“
Darunter die Therapie: „paratibiale Fasziotomie“
Über Hautinzisionen am Unterschenkel oben und unten wird die Bindegewebsschicht (Faszie), die im Muskel aufliegt, an der Innenseite des Unterschenkels neben dem Schienbein mit einem speziellen Gerät (Fasziotom) durchtrennt. Dabei werden auch verschiedene Krampfadergebilde entfernt. Die kranke insuffiziente V. saphena magna wird nicht gestrippt. Es wird keine Crossektomie im Bereich der linken Leiste durchgeführt.
Die Klägerin wurde vom 08.07.2014 bis 09.07.02014 stationär behandelt. Im Entlassungsbericht vom 09.07.2014 wird nochmals das Vorgehen der paratibialen Fasziotomie geschildert. Eine Begründung, warum die insuffiziente V. saphena magna nicht entfernt wurde, findet sich nicht.
Die Klägerin wurde sodann entlassen. Als Nachbehandlung erfolgte eine Thromboseprophylaxe mit einer subkutanen Heparintherapie für 10 Tage, das Wickeln der Extremitäten mit elastischen Binden postoperativ für 7 Tage und anschließend das Fortsetzen der Kompressionstherapie mit einem Oberschenkelkompressionsstrumpf der Klasse II. 12 Tage nach der Entlassung, also am 23.07.2014 stellte sich die Klägerin erneut in der Einrichtung der Beklagten wegen anhaltender Schmerzen nach der paratibialen Fasziotomie vom 08.07.2014 vor. Die Klägerin nahm Ibuprofen ein. Es wurde ein Wundheilungsstörung im Bereich der distalen Wunde am linken Unterschenkel diagnostiziert. Die linke Wade war weich. Es zeigte sich eine minimale Schwellung, aber keine Druckschmerzhaftigkeit und keine Überwärmung sowie keine Rötung. Des Weiteren wurde eine Sensibilitätsstörung im Bereich des Schienbeins diagnostiziert. Eine duplexsonographische Diagnostik erfolgte nicht. Aufgrund persistierenden heftiger Schmerzen im Bereich des linken Beines stellte sich die Klägerin schließlich am 29.07.2014 bei ihrem Hausarzt vor. Dieser diagnostizierte eine leichte Rötung im Bereich der Schnittführung am linken Unterschenkel und eine lokale Druckschmerzhaftigkeit im Bereich der Leiste sowie im Verlauf der großen Rosenvene und im Bereich der Kniekehle. Der Hausarzt führte eine duplexsonographische Untersuchung durch und stellte eine tiefe Venenthrombose fest, wobei die vordere tiefe Schienbeinvene (V. tibialis anterior) vor der Einmündung in die Kniekehlenvene (V. poplitea) betroffen war. Des Weiteren diagnostizierte der Hausarzt eine langstreckige Thrombosierung der V. saphena magna von der Leiste bis unterhalb des Kniegelenks und danach eine segmentale Thrombosierung dieser Vene. Schließlich fand der Hausarzt persistierende Perforansvenen cockett II und I sowie Boyd. Der Hausarzt begann die Thromboseprophylaxe mit Heparin. Einen Tag später, am 30.07.2014, wurde die Klägerin erneut wegen stärkerer Schmerzen vorstellig im Gefäßzentrum Barmherzige Brüder (Klinikum St. Elisabeth Straubing). Hier wurde diagnostiziert: Eine Thrombophlebitis der V. saphena magna nach paratibialer Fasziotomie links vom 08.07.2014, ein thrombosiertes Venenkonvolut im Bereich der Wunde am linken Unterschenkel und eine Muskelvenenthrombose, die in die V. saphena parva hineinreichte.
Am 08.10.2014 stellte sich die Klägerin nochmals in der Einrichtung der Beklagten mit Beschwerden vor. Offensichtlich kam es zwischenzeitlich zumindest zu einer Teilrekanalisation (Wiedereröffnung) der ursprünglich trombophlebitisch verschlossenen V. saphena magna am Oberschenkel. Als Behandlungsmöglichkeiten wurde eine Erhöhung des Kompressionsdruckes oder eine Varizenoperation vorgeschlagen. Es wurden Oberschenkelkompressionsstrümpfe der Klasse II verordnet und eine Wiedervorstellung in 8 Wochen vereinbart.
Die Klägerin ist in der Einrichtung der Beklagten nicht dem Facharztstandard entsprechend behandelt worden.
Verfahren:
Die vom Landgericht Regensburg in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachten haben ergeben, dass:
1.
Die alleinige Fasziotomie vom 08.07.2014 ohne Beseitigung der venösen Insuffizienz war behandlungsfehlerhaft.
2.
Die alleinige paratibiale Fasziotomie in Kombination mit der Entfernung von Varizenkonvoluten stellt einen Verstoß gegen den Facharztstandard dar, der schlechterdings nicht unterlaufen darf. Der streitgegenständliche Eingriff vom 08.07.2014 erfolgte grob behandlungsfehlerhaft.
3.
Bei einer dem Facharztstandard entsprechenden Behandlung (Entfernung der Vena saphena magna) wären die Ursachen der venösen Hypertonie beseitigt gewesen und es wäre mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu einer Abheilung des kleinen Ulcus gekommen.
4.
Die durchgeführte Fasziotomie hätte lediglich adjuvant oder additiv erfolgen dürfen.
5.
Wäre die Vene am 08.07.2014 durch Crossektomie und Stripping fachgerecht entfernt worden, hätte sich keine Thrombophlebitis mit allen Folgeerscheinungen entwickeln können. Die von der Klägerin dargelegten Folgebeschwerden sind (mit Ausnahme der Gewebeverhärtung) sämtlich auf die fehlerhafte Behandlung im Hause der Beklagten zurückzuführen.
Das Landgericht hat den Parteien daraufhin einen Vergleichsvorschlag unterbreitet, den diese akzeptierten. Danach erhält die Klägerin eine Gesamtabfindung in Höhe von rund 50.000,00 €.
Anmerkungen von Ciper & Coll.:
In vielen Arzthaftungsprozessen reicht es nicht aus, dass das Gericht lediglich ein fachmedizinisches Gutachten erstellen lässt, sondern mehrere, diese dann auch fachübergreifend. Dieses liegt in der Natur der Sache, da die medizinischen Behandlungen sich oftmals auch gerade nicht nur auf ein einzelnes Fachgebiet beschränken, sondern fachübergreifend sind. In solchen Fällen ist dann gesonderte Expertise vonnöten, erklären Rechtsanwältin Irene Rist und Rechtsanwalt Dr. D.C.Ciper LLM, beide Fachanwälte für Medizinrecht.